Dürfen Welpen Treppen laufen?
In der Hundewelt kursieren zahlreiche Faustregeln und Mythen um die Bewegungsvorgaben von Welpen. Viele davon sollten allerdings sofort über Bord geworfen werden. Ein Tierorthopäde erklärt, worauf es wirklich ankommt, um Welpen vor Gelenkproblemen zu schützen.
Text: Regina Röttgen Titelbild: Masarik/stock.adobe.com
Kaum ist der Welpe im Haus, gehen auch schon die Sorgen um seine Gesundheit los. Insbesondere um die Entwicklung der Gelenke von Welpen kursieren viele Ratschläge und Leitlinien in der Welt der Hundehalter. So zum Beispiel, dass der Welpe nicht aufs Sofa klettern darf, damit die sich bildenden Gelenke keinen Schaden nehmen. Womöglich wird er auch noch Treppenstufen herauf- und hinuntergetragen oder darf nicht auf lange Spaziergänge.
Die 5-Minuten-Faustregel ist wiederlegt
In puncto Spaziergang ist die Regel im Umlauf, mit einem Welpen oder Junghund nicht länger als etwa fünf Minuten pro Lebensmonat zu laufen. Solange eben, bis sich die Epiphysenfugen der Knochen endgültig geschlossen haben. Laut Dr. med. vet. Patrick Blättler Monnier von der Hundepraxis orthoVet vollkommener Unsinn. «Auf lange Sicht spielen gerade die Anpassungsfähigkeit und das kontrollierte Wachstum eine enorme Rolle. Ein kontrollierter Bewegungsaufbau ist eine der besten Unfall- und Verletzungspräventionen.» Anhand einer Welpenstudie, die Blättler Monnier von 2019 bis 2022 in seinem Hunde Bewegungszentrum in Frenkendorf durchführte, konnte er die 5-Minuten-Faustregel wissenschaftlich widerlegen. «Im Verlauf der Studie übten die Welpen die Bewegungen nach einem speziell aufgestellten Bewegungsplan aus. Die Zeit der Spaziergänge und von anderen physischen Aktivitäten übertraf diese Faustregel um ein Vielfaches. Gleichzeitig konnten wir kein vermehrtes Auftreten von Gelenkstörungen wie etwa der Hüftgelenksdysplasie feststellen.» Im Gegenteil: Gerade adäquate Bewegung bildet die Grundlage für eine gesunde Entwicklung von Knochen, Muskulatur, Sehnen und dem Bänderapparat, so der Tierorthopäde. Dem Welpen sollte somit das Laufen auf keinen Fall verboten werden.
Ein Welpe sollte sich, bis er müde ist, uneingeschränkt bewegen können. Ihn danach noch zu beschäftigen, schadet seiner Gesundheit.
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Welpen und Junghunde: richtig Treppen steigen
Übervorsichtig verhalten sich manche Hundehalter auch beim Treppensteigen ihres Vierbeiners und tragen den felligen Nachwuchs in den ersten Monaten jede Stufe hinauf und hinab. Eine Massnahme, die Blättler Monnier für überflüssig hält.
Treppensteigen an sich ist nicht schädlich, solang bestimmte Voraussetzungen eingehalten werden:
- Die Höhe der Stufen sollten der Grösse des Welpen entsprechen
- Unkontrolliertes Herunterspringen sowie eventuelle Stürze unbedingt vermeiden
- Unabhängig vom Alter sollte der Hund auf dem jeweiligen Untergrund nicht ausrutschen können
Wer diese Regeln einhält, tut seinem Hund mit Treppensteigen sogar etwas Gutes, meint der Tierorthopäde.
Kontrolliertes Treppensteigen bei Hunden hat viele Vorteile:
- Es fördert die Koordination
- Fördert den Gleichgewichtssinn
- Fördert die Konzentration
- Es erleichtert das Überwinden von möglichen Ängsten
- Steigert die Vertrauensbildung zum Menschen und seiner Bezugsperson
In der Tat wissen wir heute um die Wichtigkeit körperlicher Beschäftigung. Aktivität unterstützt den Stoffwechsel und daher auch die (Gehirn-)Durchblutung. Bewegung begünstigt aber auch die Neubildung und Vernetzung von Nervenzellen. Davon wiederum profitieren die Wahrnehmung, der Gleichgewichtssinn, das Koordinationsvermögen und das Körperbewusstsein. Überdies spielt körperliche Bewegung eine wichtige Rolle bei der Steuerung von Emotionen sowie Gedächtnis- und Lernleistungen – sowohl beim Welpen als auch beim Junghund.
Gelenkdysplasien sind multikausal
- Genetische Disposition beziehungsweise Veranlagung
- Qualitativ schlechte Bewegung durch häufige Stürze vor allem im jungen Alter oder rüpelhaftes Verhalten anderer Hunde
- Unzureichende Ruhephasen
- Zu hohe Ernährungsintensität und hohes Körpergewicht
- Zu schnelles Wachstum (oft mit der Ernährungsweise zusammenhängend)
Nach neuestem Wissensstand, Quelle: Dr. vet. med. Blättler Monnier
Mit Wölfen und Kindern nicht zu vergleichen
In Kontrast zu der 5-Minuten-Regel und dem Treppenverbot steht die oft angeführte Analogie zu Wolfswelpen oder Kleinkindern, die im Gegensatz zu Hundewelpen in der Regel weitreichende Bewegungsfreiheit geniessen. Blättler Monniers Meinung nach hinkt dieser Vergleich stark. Dass der Nachwuchs von Wölfen und Menschen auch ohne Bewegungseinschränkungen keine Gelenkprobleme hätte, führt der Hundeorthopäde auf andere Gründe zurück. «Bei diesen beiden Spezies sind Statik und Dynamik diametral anders als bei Hunden. Auch die Bewegung des Kindes unterscheidet sich deutlich von derjenigen des Hundes. Vor allem das Alter, in dem der Mensch und der Hund zu laufen beginnen, erlaubt keinen Vergleich.» Zudem würde die menschliche Hüfte bei Problemen nach der Geburt per Ultraschall untersucht und eine Hüftgelenksdysplasie häufig durch eine Spreizhose reguliert und korrigiert. Beim Hund ist nicht nur die Spreizhose undenkbar. «Ultraschalluntersuchungen beim Hund ergeben kein valides Resultat.» Per Röntgenaufnahme und manuellen Techniken können jedoch ab der 16. Woche Fehlstellungen der Hüfte, des Ellbogens oder der Kniescheibe festgestellt werden, die dann mit der entsprechenden chirurgischen Technik behoben werden können.
Bewegung selten der Grund für Gelenksdysplasie bei Hunden
Auch zu solchen Gelenkproblemen hat Blättler Monnier in seiner Praxis geforscht und aktuell eine wissenschaftliche Studie zur Hüftgelenksdysplasie (HD) und Bewegungsfeatures abgeschlossen. «Wir wollten den Zusammenhang zwischen Bewegung und Hüftgelenksdysplasie tiefergehend aufzeigen. Im Zeitalter der Digitalisierung möchten wir die Entwicklungen der künstlichen Intelligenz (KI) und des machine learning nutzen, um die Veterinärmedizin zu neuen Methoden der Prävention und Prophylaxe anzuregen.» Im von ihm entwickelten LupoMove® Puppy-Programm konnte der Tierorthopäde vorbeugende Massnahmen mit der KI vereinen und selbst einem vermeintlich aussichtslosem Fall eine Perspektive ermöglichen. Bei einem Vierbeiner mit Hüftgelenksdysplasie integrierte Blättler Monnier sogar die KI und den 3D-Druck eines künstlichen Hüftgelenks in die Behandlung.
Die Fehlbildung der Hüft- beziehungsweise Ellbogengelenke tritt meist beidseitig und innerhalb der ersten 15 Lebensmonate auf und kann von Hund zu Hund unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Während junge Hunde mit ausgeprägter Hüftgelenksdysplasie oft Schmerzen haben, können bei leichteren Formen Krankheitsanzeichen ausbleiben. Gerade deswegen ist die Frühdiagnostik während der 16. und 19. Lebenswoche äusserst wichtig.
Zwar können auch kleine Rassen von Hüft- oder Ellbogendysplasie (ED) betroffen sein. Besonders häufig treten diese jedoch bei einigen Rassen wie Labrador Retriever, Golden Retriever, Rottweiler und Schäferhund auf. Warum manche Rassen stärker betroffen sind als andere, liegt laut Monnier an mehreren Faktoren: zum Beispiel der Beckenform und der damit zusammenhängenden Biomechanik des Beckens. Zuchtselektion kann hier nicht ausreichend helfen, meint der Tierorthopäde. «Die Vererbungslehre nach Mendel ist als Erklärung nicht ausreichend, da die Hüftgelenksdysplasie eine polygenetische, multifaktorielle Erkrankung ist. Der Genpool selbst kann nicht verändert werden.» In der Tat zeigten Studien bereits, dass das Vorkommen der Hüftgelenksdysplasie trotz Zuchtselektion nur mässig zurückgegangen ist.
Auch kleine Rassen können von einer Hüft- oder Ellbogendysplasie betroffen sein. Vermehrt finden sich bei ihnen jedoch Probleme mit der Kniescheibe.
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Gelenkproblemen vorbeugen
Verhindert werden kann eine Dysplasie somit leider nicht. Aber das Risiko, sie zu entwickeln, kann laut Blättler Monnier minimiert werden. So warnt der Tierorthopäde davor, den Welpen unbeaufsichtigt toben zu lassen. Auch übermässige Aktivität könne dem Hund schaden. «Die Bewegungen sollten stets sinnvoll sein, den Grundsätzen von Statik und Dynamik entsprechen und von einem individuellen, auf den einzelnen Hund abgestimmten Bewegungs- und Trainingsplan begleitet sein.» Indem die Biomechanik von Becken und Beckengliedmasse gewährleistet wird, würde orthopädischen Problemen bestmöglich vorgebeugt. Ein gutes Mittelmass enthält zudem ausreichend Ruhe. «Gesunde Bewegung und Umwelteinflüsse sind wichtig für die kognitive Prägung und Konditionierung sowie für das Skelettsystem. Aber es braucht auch Ruhe – viel Ruhe – zur Verarbeitung von Bewegung und Eindrücken.»
In diesem Zusammenhang verweist Blättler Monnier auf die Arndt-Schulz-Regel sowie die Biologie der Orthopädie. «Der Körper und das Skelett besitzen die Fähigkeit, sich an die Bewegung anzupassen. Dies allerdings nur bis zu einem gewissen Masse. Überforderung schadet daher dem Welpen. Zudem sollten sich kognitive und körperliche Vorgänge die Waage halten.» Seine Faustregel: nach einer Aktivität erstmal ein bis zwei Stunden Ruhe.
Auch die Ernährung ist für Blättler Monnier ein aus der Gelenkvorsorge nicht wegzudenkender, entscheidender Aspekt. «Eine adäquate Ernährung ist insofern ein wichtiger Faktor, da die Endgrösse des Hundes genetisch definiert und die Geschwindigkeit, mit der der Hund die Endgrösse erreicht, abhängig von der Intensität der Ernährung ist.» Im Rahmen der oben genannten Studie konnte er aufzeigen, dass mit dem Anstieg des Ernährung-Intensität-Koeffizienten sich das Körpergewicht erhöht und somit auch das Risiko an einer Hüftgelenksdysplasie zu erkranken.
Als goldene Regel rät der Tierorthopäde, dem Welpen bereits bei geringen Anzeichen von Störungen die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. «Die Bezugsperson verbringt am meisten Zeit mit ihrem Hund und kann bei Humpeln oder Schmerzen am schnellsten handeln. Regelmässig oder lieber einmal zu früh in die Tierpraxis gehen als zu spät.» Nur so könnten Folgeschäden verhindert werden.